Zeichenfabrik Andrea Jakob
"Aussterben ist kein herrliches Leben"
(Isabel, vier Jahre alt)
Kinderzeichnungen der Asperger Autistin Isabel Jakob
Vorwort
Isabel ist unsere Tochter. Sie wurde am 22. August 1997 geboren und starb am 4. Januar 2015.
Isabel liebte Vögel. Andere Tiere auch, aber ganz besonders Vögel. Vögel waren alles und alles andere Beiwerk, auch wir.
Ich erinnere mich nicht an ein Schlüsselerlebnis oder irgendeinen Grund für dieses einseitige, besitzergreifende Interesse, aber ich glaube, es hat angefangen, als sie etwa vier oder fünf Jahre alt war.
Vorher waren es für eine kurze Zeit die Dinosaurier. Was ja nach heutigem Stand der Wissenschaft der evolutionären Vorstufe entspricht. Passt also.
Während andere Kinder Strichmännchen zeichneten, zeichnete Isabel Vögel. Das fing an morgens gleich nach dem Aufstehen und war mit teilweise lästigen Unterbrechungen (vor allem die Grundschule) Leitmotiv bis zur Bettgehzeit und: sie zeichnete ausschließlich Vögel. Auch wir Eltern oder ihre Schwester waren stets Vögel.
Die ersten Zeichnungen entstanden hauptsächlich nach Abbildungen in Fachbüchern, die sie intensiv studierte. „1000 Vögel“ hieß das erste, dann folgten zahlreiche weitere Vogelbestimmungsbücher verschiedener Autoren und Verlage.
Natürlich wollte sie irgendwann wissen, was in der immer größer werdenden Zahl von Büchern stand, die sie teils geschenkt bekam oder in der Bücherei auslieh. Lesen hatte sie noch nicht gelernt, also brachte sie es sich selber bei, indem sie die Buchstaben und Zahlen in diesen Büchern zerlegte. Z.B.: wie alt wird die Blauracke?, oder: wie viele Eier legt der Buntspecht? bald konnte sie den Namen entziffern und erfuhr anschließend durch immer geübteres Lesen Wissenswertes zur Lebensweise einer Art.
Das Wissen speicherte sie ab.
Isabel zeichnete teils nach Vorlage, also nach Fotos und Abbildungen. Sie erfand aber auch selber Vögel, Vogelartige und Mischwesen.
Andere Menschen malte sie ebenfalls als Vögel. Weshalb eine Psychologin uns eindringlich ins Gewissen redete, ihr keine Vogelbücher mehr zu geben - vollkommen undenkbar.
Sie bastelte Vögel aus Holz oder Papier, sowie Flügelkonstruktionen, die in mir großes Unbehagen und innere Unruhe auslösten. Ich schaute in dieser Zeit öfter mal ins Kinderzimmer, denn das lag im 2. Stock und das Garagendach war hart. Es ist nichts passiert. Die Flügel wurden nur am Fasching ausgeführt.
Derweil trieb Isabel eine andere Sorge um: warum waren so viele Vogelarten ausgestorben? In einem der Vogelbestimmungsbücher gab es eine Seite mit Abbildungen dieser Tiere. Sie weinte bitterlich und ihre Tränen tropften auf die bunten Bilder.
Die europäische Vogelwelt hatte sie bald verinnerlicht und ging zur befiederten Fauna anderer Erdteile über. Asien, Amerika, Afrika und schließlich Australien und Neuseeland . Ihre größte Liebe galt bald den Papageien, weshalb ihr Wunschtraum eine Reise in eins der Papageieneldorados dieser Erde war. Wir sparten eisern, aber irgendwie war jedes Jahr zur Zeit der Urlaubsplanung ein Schwund auf unserem „Tropenkonto“ zu konstatieren. Es wurde leider nichts daraus.
Ihr umfassendes Wissen kam uns trotzdem oft zugute. Zum Beispiel als wir im weltgrößten Vogelpark Walsrode keinerlei Erklärungstafeln studieren mußten, denn Isabel klärte uns jeweils auf, um wen es sich in der Voliere handelte. Andere Zoobesucher standen staunend dabei, als das kleine blonde Mädchen Zweifarbenpitohuis oder lauchgrüne Papageiamadinen identifizierte.
Sie war begeistert und plante , selbst Papageien zu halten.
Jahrelang verhandelten wir mit ihr erbittert. Schließlich gaben wir auf. Mehrere Wellensittiche und ein gefundener Grünfink wohnten sowieso schon lange bei uns. Mit 12 Jahren bekam sie erst einen, dann noch zwei Maximilianpapageien.
Auf die Idee, Isabel leide am Asperger Syndrom, wäre ich im Leben nie gekommen. Auch der Psychologin, die sie mit sieben Jahren gründlich untersucht und getestet hatte, ging damals offensichtlich kein Licht auf. Wir hatten keinen Vergleich und fanden es vollkommen normal, daß man einem Kind einen Stift in die Hand gibt und es dann anfängt, stundenlang zu malen. Wir dachten, das sei immer so.
Die Diagnose erhielten wir erst, als Isabel schon fast 16 war und einen langen Leidensweg hinter sich hatte. Jetzt wußte sie endlich, warum sie so war, wie sie war. Jahrelang hatte sie unter sozialer Isolation gelitten, weil sie nicht so sein wollte und konnte wie die anderen. Deshalb, und nur deshalb war die „Diagnose“ wichtig, denn krank war sie nicht. Sie bekam jetzt Stück für Stück ihr Selbstbewußtsein wieder und war sogar stolz auf „ihren Asperger“.
Ihr Leben wollte sie nun in die Hand nehmen, Abitur machen und Biologie studieren, nicht zuletzt, um ein kleines bisschen dazu beizutragen, dem Artensterben Einhalt zu gebieten .
Alles war auf bestem Wege, zu schön, um wahr zu sein...
Wir hätten uns eigentlich denken können, daß nichts auf dieser Welt so einfach funktioniert.
Es gab jemanden, den wir nicht auf dem Schirm hatten.
In der Zeit, als immer Weniger zum Kindergeburtstag kamen, weil niemand mehr Isabels Vogelspiele mitmachen wollte oder später, in der Zeit, als die letzten Freundinnen verprellt wurden, weil Isabel keine Lust zum Shoppen hatte, fand sie eine verwandte Seele. Eine Nadel im Heuhaufen.
In einem Internetforum nahm sie Kontakt zu einem Gleichaltrigen auf. Die Beiden mochten sich auf eine seltsam sterile Art und Weise. Bei den wenigen gegenseitigen Besuchen ging es extrem schweigsam zu. Wesentlich mehr Worte fanden sie im Internet. Es machte nichts aus, daß sie 600 Kilometer weit auseinander wohnten, denn am PC chatteten sie oft mit Leidenschaft.
Durch die sparsam gehaltene Konversation hatten wir Eltern leider wenig Gelegenheit , den jungen Mann wirklich kennenzulernen.
Wir wußten nicht, daß er nicht nur Asperger Autist, sondern vor allem krankhaft narzistisch und eifersüchtig war. Wir wußten nicht, daß er deshalb nicht mehr zur Schule ging, weil er Schulverbot hatte. Seine Mitschüler hatten begründete Angst vor einem Amoklauf. Wir wußten auch nicht, daß er seitdem Tag und Nacht auf einschlägigen Seiten im Internet unterwegs war, die sich mit Töten und Morden befassen und daß er eigentlich fast alles und vor allem Alle haßte.
Wir spürten nur, daß mit ihm etwas nicht in Ordnung war. Aber das galt ja auch für unsere Tochter.
Er wollte Isabel für sich alleine haben. Sie sollte niemals mit Anderen zusammen sein und am besten , wie er, ganz zu Hause bleiben. Das kam natürlich für uns alle überhaupt nicht in Frage. Im Gegenteil: wir waren froh, daß Isabel nach der Diagnose begann, sich nach außen zu öffnen. Sie arbeitete mit Psychotherapeuten zusammen und nach dem von ihr initiierten Schulwechsel schien sich sogar eine zarte neue Liebesbeziehung anzubahnen.
Für uns unsichtbar ließ der ins Unermessliche gewachsene Groll des Narzissten die Liebe nun endgültig in Haß umschlagen.
Seine verschrobenen Gedanken gaben ihm die Rechtfertigung für sein Vorhaben: Sie war schuld, denn sie wollte den Versuch wagen, in der Welt der „normalen Idioten“ Fuß zu fassen.
Um sie zu töten, wählte er den für ihn unkompliziertesten Zeitpunkt: während sie schlief. Mit dem „Wie“ hatte er sich lange genug beschäftigt, das Messer mitgebracht. Sie hatte keine Chance und wir nicht einmal mehr die Möglichkeit , ihr zum Abschied die Hand zu reichen.
Wenn man ein Kind verliert, altert man schlagartig. Ich fühlte mich von einer Sekunde zur anderen wie eine uralte Frau.
Ein Trauma ist zäh wie Kaugummi. Nach fünf Jahren ist es mir zum ersten mal möglich, ihre Zeichnungen und Bilder zu sortieren.
Zu den Abbildungen:
Da ich zum Zeitpunkt der Entstehung selten ein Datum vermerkt habe, versuchte ich, die Zeichnungen und Bilder nach dem Gedächtnis chronologisch zu ordnen. Manchmal vergab Isabel selber einen Titel. manchmal fiel mir etwas Passendes ein.